Noam – unser Schatz

Es kam der Tag, da fühlten wir uns bereit für ein zweites Kind. Nach einigen gesundheitlichen Herausforderungen war etwas Ruhe in unseren Alltag eingekehrt. Natürlich waren da Momente des Zweifelns. War das zu schaffen? War da genug Kraft? Trotz all den Unsicherheiten, die Vorfreude auf ein Leben zu viert war grösser. Bald schon machte sich ein neues Familienmitglied auf den Weg. Wie gross war die Freude! Unsere, die der Schwester, des Umfeldes. Die Schwangerschaft empfand ich als sehr anstrengend–körperlich. Der Alltag mit Familie und Arbeit, den Ansprüchen sei Dank schon immer eine tägliche Herausforderung, kostete zusätzliche Kraft. Und doch genoss ich die Schwangerschaft, baute mit dem Bauchbewohner eine Beziehung auf. Ich malte mir unsere Zukunft aus, unseren unspektakulären Alltag, die sich wandelnden Beziehungen in unserer kleinen Familie. Ein Junge dieses Mal. Wir haben später den Namen «Noam» für ihn ausgesucht.

Wegen der Pandemie-Situation musste ich leider jeweils allein zu den Schwangerschaftskontrollen. Umso schöner waren dann die Kontrollen bei der Hebamme, als die Geburt näher rückte. Nichts gab Grund zur Sorge. Ein eher kleines, feines Kind. Wie die grosse Schwester auch. Ebenso aktiv und bereit für diese Welt. Ich fragte mich regelmässig, wann und ob dieses Kind in meinem Bauch zwischen all den Turnübungen überhaupt schlief. «Bruder Jakob», wie ihn seine Schwester nannte, liebte es, mit der Aussenwelt zu kommunizieren, reagierte sofort und überschwänglich, wenn man mit ihm Kontakt aufnahm. Aus der Schwangerschaftszeit sind uns nicht nur Ultraschallbilder geblieben, sondern auch filmische Zeugnisse seiner Bewegungen, seiner Lebendigkeit. Aufgenommen für den Papa und die Schwester, die nicht zur Ärztin mitdurften.

Als Noam sich kurz nach dem Termin auf den Weg macht, hat er es eilig. Warum wohl? Die Wehen folgen dicht aufeinander. Ihm und mir sind kaum Verschnaufpausen gegönnt. Pausen, die er vermutlich gebraucht hätte. Noch zu Hause, kurz vor der Abfahrt ins Spital, stellen wir fest, dass das Fruchtwasser grün ist. Im Spital sieht die Hebamme, dass die Geburt schon weit fortgeschritten ist. So dauert es auch nur noch etwa zwei Stunden, bis der Kleine auf die Welt kommt. Kurz darauf liegt Noam auf meiner Brust, wir sehen uns an und heissen ihn willkommen. Wir sind überglücklich. Aber von unserem Sohn kommt kein Willkommensschrei und er ringt um Atem. Die Hebamme hilft ihm sofort, sieht aber, dass Noam grössere Hilfe braucht. Sein Papa kann ihn noch abnabeln und dann wird dieses kleine Geschöpf hastig aus dem Zimmer getragen, wir bleiben verloren zurück.

Besorgt und gleichzeitig wie in Trance. Was ist passiert? Schon da setzt vermutlich der Schock ein: Von einer Minute zur nächsten tauchen wir von Freude, Erleichterung und Zuversicht in eine Hilflosigkeit und in das pure Entsetzen. Lange wissen wir wenig über den Zustand unseres Sohnes, eigentlich nur, dass er das grüne Fruchtwasser eingeatmet hat, beatmet wird und in ein anderes Spital verlegt werden muss. Kurz vor Noams Abreise erhalten wir endlich einige Informationen mehr und realisieren, wie schlecht es um ihn steht. Wir können Noam nochmals sehen, kurz seine winzige Hand streicheln und ihm viel Kraft wünschen. Noch ist sein Kreislauf stabil, aber das wird sich bereits auf der anstehenden Fahrt ändern. Wir sind ohne Zeitgefühl, erkundigen uns irgendwann und erfahren, dass es Noam schlecht geht. Sein Papa soll so rasch wie möglich zu ihm, das ist mein innigster Wunsch. Ich kann leider nicht mit, der Kreislauf ist zu instabil. Auf der Intensivstation liegt der Kleine am Beatmungsplatz. Eine letzte Möglichkeit möchten die Ärzte noch ausschöpfen. Doch auch dieser Versuch läuft ins Leere – Er wird es nicht schaffen. Noam hat gekämpft, aber seine Lungen waren zu verklebt, als dass er hätte selbständig atmen können. Er findet seinen Platz in Papas starken Armen, darf – aus weiter Ferne vermutlich schon – den sanften Liedern lauschen, die er für ihn singt.

Als ich endlich mit der Ambulanz eintreffe, ist kein Herzschlag mehr da. Auf Papas Gesicht sehe ich reinen, unermesslichen Schmerz. Ich habe Noams nahenden Tod gespürt, habe die ganze Fahrt über nur geschrien «Nein!», «Nein!». Wo eben noch Tränen mich über so lange Zeit durchgeschüttelt haben, tritt eine Leere. Das ist unfassbar. Das will ich nicht wahrhaben. Und doch finde ich kaum mehr eine Spur von Leben in diesem Körper, den ich mit meinen Armen festklammere und nie mehr loslassen will. Wir sind wieder vereint und sind es doch nicht, denn Noams Seele ist zwar noch nah, aber bereits wieder auf dem Weg.

Wir als Eltern, als Familie zusammen mit unserer Tochter nehmen uns Zeit für den Abschied. Erst im Spital und dann daheim. Zeit, die man uns auch lässt. Wir können ihn einigen, uns lieben Menschen vorstellen. Eine Woche nach seinem Tod lassen wir auch Noams Körper gehen. Er ist nicht mehr sein Zuhause.

Noam hat auch so noch seinen Platz bei uns, begleitet uns tagtäglich - zusammen mit den zwei weiteren Sternenkinder, die wir seit Noams Tod früh in der Schwangerschaft verloren haben. So wird es immer bleiben. Er ist da in unseren Herzen, in unseren Erinnerungen, den Fotos und den Andenken. Wo auch immer es ihn hingezogen hat, wir fühlen uns verbunden. Und wir sind ihm für immer dankbar für sein Kommen. Für die Tiefe, die er unserem Leben geschenkt hat, für die Bereicherung, die er für uns ist und bleibt.

Noam – Lieblichkeit, Milde.

Nach Noams Geburt haben uns drei weitere Sternenkinder kurz besucht. Das zweite hat sich in den ersten Wochen verabschiedet. Nummer drei und vier haben versucht, sich im Eileiter zu entwickeln. Auch sie sind Teil unserer Familie.