Atanas - für immer in unseren Herzen

Mein Bauch war riesig. Es war ja auch meine dritte Schwangerschaft. Und ein Junge. Ein richtig grosser und schwerer “Mocken”.

Atanas soll er heissen. Ein starker Name für einen starken Jungen. Und wie er sich bewegt hat - gestrampelt und gekickt - so dass sich der Bauch dabei deutlich nach aussen gewölbt hat. Ich habe ihn häufig gespürt und dann über den Bauch gestreichelt, um dem kleinen Mann ein Zeichen zu geben, dass ich für ihn hier bin. Ich werde immer für dich da sein. 

Ich fand mich eigentlich ziemlich gut darin, schwanger zu sein, auch wenn ich es als durchaus anstrengend empfand. Vor allem mit zwei kleinen Kindern im klassischen Zweijahresabstand im Schlepptau. Auch meine dritte Schwangerschaft verlief unauffällig. Dem kleinen “Mocken“ ging es gemäss der Gynäkologin bei allen Kontrollen gut und er entwickelte sich prächtig. Bis 6 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin habe ich in einem Teilzeit-Pensum gearbeitet. Ich habe gegen Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Schwindel angekämpft und mit den lästigen körperlichen Beschwerden habe ich mich bestmöglich arrangiert. Neben gewissen Bedenken, wie das Leben mit drei kleinen Kindern wohl aussehen würde, war die Vorfreude sehr gross.  

Der “Mocken” konnte seine beiden Geschwister bestimmt regelmässig hören und wahrscheinlich auch spüren. Zum Beispiel, wenn sie den für ihn ausgewählten Musikbären auf meinen Bauch drückten. Oder wenn sie fragten, wann er denn nun endlich zu uns kommt. Oder wenn sie durch den Bauchnabel zu ihm riefen: “Usechoooo!”. Auch mein Mann hat sich sehr auf unser drittes Kind gefreut. Er hat sich immer drei Kinder gewünscht. Meine aufflackernden Sorgen bezüglich der Gesundheit des Ungeborenen hat er stets mit seiner Zuversicht beruhigt. 

Wenige Tage vor dem errechneten Geburtstermin hat sich der kleine Mann dann am Nachmittag mit den ersten Wehen auf den Weg gemacht. Nur war es ein anderer Weg - aber das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nachdem wir unter den anfänglich noch ertragbaren Wehen die Betreuung der beiden älteren Kinder organisiert hatten, fuhren wir im Auto zum Geburtshaus. Dort kamen zwei und vier Jahre zuvor schon die beiden Grossen zur Welt. Es waren jeweils relativ kurze und soweit komplikationslose Geburten.

Im Geburtshaus angekommen, waren aber keine Herztöne des Kleinen zu hören. Ich bemerkte die Unruhe der zuständigen Hebamme. Ich war schon rasch in sehr starken Wehen. Es wurde eine weitere Hebamme dazu beordert. Mein Mann war an meiner Seite. Die Anleitungen der Hebammen waren klar und deutlich. Mein Körper leistete gute Arbeit. Mein Restverstand aber war voller Sorge. Die Geburt war schnell und sie war heftig. 

Atanas kam still zu uns. Er war von grosser und kräftiger Statur. Und er war blau. Sein Körper war ohne Anzeichen von Leben. Er schrie nicht. Er atmete nicht. Zu meinen Füssen zählten die Hebammen laut: “Eins, Zwei, Drei! Eins, Zwei, Drei!”. Immer wieder. Sein Herz wollte nicht selbst schlagen. Ich hielt mich an meinem Mann fest. Ich war verwirrt und erschöpft und überfordert. Alles war falsch. Irgendwann kamen die Ärzte von der Neonatologie und nahmen Atanas mit in den Nebenraum, um ihn dort weiter zu reanimieren. Wir blieben einfach auf dem Bett im Geburtsraum liegen und konnten uns nicht bewegen. Eine Hebamme blieb bei uns und hielt unsere Hände. Ich schüttelte den Kopf und hoffte, dass dies alles nicht wahr sei. Es stieg Verzweiflung in mir auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit sprach ich aus, dass es wohl nicht gut um ihn stehe. Die Hebamme brach in Tränen aus. Ich konnte es nicht fassen. Später kamen die Ärztinnen und machten uns die Mitteilung, dass sie ihn leider nicht haben reanimieren können. Ich nahm es hin und stand unter Schock. Wir wollten ihn sehen. Ich wurde gestützt von der Hebamme und meinem Mann ins Nebenzimmer geführt. Ich nahm es zur Kenntnis, dass mein kleiner Sohn dort leblos auf einer kleinen Bahre lag. Es war ein unerträglicher Anblick. Ich konnte nichts mehr einordnen. Ich fühlte mich taub. Das war alles falsch. Später kam ein Polizist mit einer Staatsanwältin zu uns in den Geburtsraum. Sie befragten uns zum Ablauf der Geburt. Sie wollten wissen, was passiert sei. Sie fragten, was denn falsch gelaufen und ob die Schwangerschaft wirklich unauffällig verlaufen sei. Ich konnte keine Worte finden. Ich starrte an die weisse Wand und hoffte, dass dies alles nicht wahr sei. Alles war falsch. Später, als die Fragerei vorüber war, wollte ich Atanas erneut sehen. Man brachte ihn zu uns. Ich wollte ihn berühren, tat dies zaghaft und vorsichtig. Ich wusste, es wäre hilfreich, ihn zu fotografieren und fragte die Hebamme, ob wir dies tun dürfen oder sollen. Ich fragte sie auch, ob ich ihn halten dürfte. So hielt ich den kleinen Buben in meinen zittrigen Armen als er noch warm war. Er war so schwer und sah so stark aus. Das konnte doch nicht wahr sein.

Während mein Mann vor lauter Überforderung und Unfassbarkeit irgendwann erschöpft einschlief, folgten für mich schlaflose Stunden. Die Zeit verschwamm ebenso wie der Raum. Ich fiel ins Bodenlose. Ich versuchte mir Halt zu geben indem ich das Schreckliche in Worte fasste - nur ein kurzer Text, um unsere Familie und Freunde zu informieren. Nach einiger Zeit, am frühen Morgen, wollten wir nach Hause zu unseren grossen Kindern. Ich hielt Atanas noch einmal in meinen Armen. Nun war er kalt. Daheim angekommen nahmen uns die Kinder in Empfang. Ihr Papa sagte ihnen, dass das Herz ihres kleinen Bruders nicht geschlagen habe und dass wir ihn gehen lassen mussten.

Atanas. Kurzform von Athanasios. a = un (Altgriechisch); thanatos = der Tod (Altgriechisch). Bedeutung: Der Unsterbliche.